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Was macht literarische Übersetzungen literarisch? Dr. phil. Alena Petrova VI. Innsbrucker Ringvorlesung zur Translationswissenschaft Innsbruck, 04. 06. 08
Was macht literarische Übersetzungen literarisch? Meinung 1: Orientierung am Zieltext • ZT liest sich nicht als eine Übersetzung, sondern als ein (originales) Kunstwerk • ZT zeichnet sich durch Schönheit des Ausdrucks bzw. eindeutig poetische Sprache aus • ZT verstößt nicht gegen die Normen der Zielsprache Meinung 2: Orientierung am Original • ZT gibt den Inhalt und den Stil des Originals so präzise wie möglich wieder, d. h. es erhält seine „sekundäre Struktur“
Textbeispiel Versunken in die Nacht. So wie manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, dass sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher Stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein.
Bewertung des Textes anhand der herkömmlichen Stilistik • Lexik: Alltagssprache mit vielen Wiederholungen: „versunken (sein) in die Nacht“ (2 Mal), „schlafen“ (2 Mal), „fest“ (2 Mal), „kalt“ (2 Mal), „wachen“ (3 Mal) • Morphologie: Nominalstil (schwerfällig: „durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir“) + viele Partizipien („versunken in die Nacht“, „ausgestreckt oder geduckt“, „hingeworfen“, „die Stirn auf den Arm gedrückt“, „ruhig atmend“) • Syntax: 7 kurze Sätze + 1 langer Satz (60%); zum Teil elliptischer Syntax der gesprochenen Sprache mit vielen Aufzählungen; zum Teil fehlende Konjunktionen und Satzzeichen; am Ende syntaktischer Parallelismus („einer muss wachen“, „einer muss da sein“) → kein „schöner“ Text: umständliche, zum Teil schwer verständliche und nicht korrekte Redeweise
Was macht Kafkas Erzählung „Nachts“ literarisch? • Nicht: „Schönheit“ des Ausdrucks (keine Metaphern, keine poetische Epitheta…) • Nicht: Vielfalt des Ausdrucks (keine Synonyme, sich wiederholende syntaktische Konstruktionen) • Nicht: Sujet + literarische Figuren • Ich-Erzähler mit einem entpersönlichten „ich“ (→ man, du, einer): innerer Monolog eines „Wächters“ = Künstlers → 4 -maliger Erwartungsbruch = Normabweichung → asketische Ästhetik (lakonische / „ungeschmückte“ Redeweise, Wiederholungen als Mittel der expressiven Akzentsetzung / Steigerung) = „sekundäre Struktur“ (in jedem Text anders!)
Übersetzungen von Kafkas Erzählung Russisch Ночью Погрузиться в ночь, как порою, опустив голову, погружаешься в мысли, – вот так быть всем существом погружённым в ночь. Вокруг тебя спят люди. Маленькая комедия, невинный самообман, будто они спят в домах, на прочных кроватях, под прочной крышей, вытянувшись или поджав колени на матрацах, под простынями, под одеялами; а на самом деле все они оказались вместе, как были некогда вместе, и потом опять, в пустынной местности, в лагере под открытым небом, неисчислимое множество людей, целая армия, целый народ, – над ними холодное небо, под ними холодная земля, они спят там, где стояли, ничком, положив голову на локоть, спокойно дыша. А ты бодрствуешь, ты один из стражей и, чтобы увидеть другого, размахиваешь горящей головешкой, взятой из кучи хвороста рядом с тобой. Отчего же ты бодрствуешь? Но ведь сказано, что кто-то должен быть на страже. Бодрствовать кто-то должен. (Ф. Кафка: Замок. Новеллы и притчи. Письма к Милене. 1991, с. 412)
Englisch At Night Deeply lost in the night. Just as one sometimes lowers one‘s head to reflect, thus to be utterly lost in the night. All around people are asleep. It‘s just play acting, an innocent self-deception, that they sleep in houses, in safe beds, under a safe roof, stretched out or curled up on mattresses, in sheets, under blankets; in reality they have flocked together as they had once upon a time and again later in a deserted region, a camp in the open, a countless number of men, an army, a people, under a cold sky on cold earth, collapsed where once they had stood, forehead pressed on the arm, face to the ground, breathing quietly. And you are watching, are one of the watchmen, you find the next one by brandishing a burning stick from the brushwood pile beside you. Why are you watching? Someone must watch, it is said. Someone must be there. (The Penguin Complete Short Stories of Franz Kafka, 1983, S. 436)
Spanisch De noche ¡Hundirse en la noche! Así como a veces se sumerge la cabeza en el pecho para reflexionar, sumergirse por completo en la noche. Alrededor duermen, los hombres. Un pequeño espectáculo, un autoengaño inocente, es el de dormir en casas, en camas sólidas, bajo techo seguro, estirados o encogidos, sobre colchones, entre sábanas, bajo mantas; en realidad se han encontrado reunidos como antes una vez y como después en una comarca desierta: Un campamento al raso, una inabarcable cantidad de personas, un ejército, un pueblo bajo un cielo frío, sobre una tierra fría, arrojados al suelo allí donde antes se estuvo de pie, con la frente contra el brazo, y la cara contra el suelo, respirandoo pausadamente. Y tú velas, eres uno de los vigías, hallas al prójimo agitando el leño encendido que cogiste del montón de astillas, junto a ti. ¿Por qué velas? Alguien tiene que velar, se ha dicho. Alguien tiene que estar ahí. (http: //www. geocities. com/Athens/9505/denoche. htm)
Bewertung der Übersetzungen hinsichtlich des Erhalts der „sekundären Struktur“ • Englisch: leichte Bedeutungsverschiebungen („it‘s just play acting“, „flocked together“, „deserted region“, „collapsed“) • Spanisch: veränderte Syntax (Appositionen, Satzzeichen, Relativsatz), Missachtung von 2 Wiederholungen („hundirse“ / „sumergirse“ + „solidas“ / „seguro“) • Russisch: Bedeutungsverschiebungen ( «комедия» , «спят» , «быть на страже» ), Hinzufügungen ( «тебя» , «взятой» ), Umstellungen ( «ничком» , «быть на страже» ), veränderte Syntax (Satzzeichen, Finalsatz, kein syntaktischer Parallelismus)
Erklärung der Unterschiede zwischen den Übersetzungen 1. Übersetzer haben auf verschiedene Art und Weise den Text / die Intention des Autors verstanden 2. Übersetzer haben verschiedene Vorstellungen davon, was literarisches Übersetzen ist (Originaltreue vs. Kreativität) ← es gibt keine wissenschaftlich fundierte Theorie des literarischen Übersetzens, die dem Übersetzer v. a. ein Instrumentarium in Bezug auf die Analyse und das Verständnis des literarischen Textes an die Hand gibt
Anforderungen an eine textartspezifische Übersetzungstheorie „Aus meiner Sicht gibt es drei grundlegende Fragen, die jede Translationstheorie (und deshalb auch eine Theorie des literarischen Übersetzens) beantworten muss […]: 1. Wie versteht der Übersetzer / Dolmetscher den AT? 2. Wie übersetzt / dolmetscht er den Text aus der AS in die ZS? Welche Wissenssysteme werden für diese Tätigkeit aktiviert und was für ein Entwicklungsstand ist für ein erfolgreiches Ausführen der Translation erforderlich? 3. Wie produziert der Übersetzer / Dolmetscher den ZT? “ (L. Zybatow 2008: 19) → im Vortrag Antworten auf 1. + 2. Frage, d. h. die Frage nach der „Beschaffenheit“ literarischer Texte und die Frage nach den für das Literaturübersetzen erforderlichen Wissenssystemen
Originaltreue vs. Kreativität Unterscheidung zwischen verdeckter und offener Übersetzung (nach J. House): 1. Eine verdeckte Übersetzung ist „pragmatisch nicht als Übersetzung markiert“ (2007: 18), d. h. sie fügt sich nahtlos in die Zielkultur ein. Sie beabsichtigt die Äquivalenz der Adressatenreaktion. Dazu müssen Änderungen im Originaltext vorgenommen werden; es ist also eine „freie“ Übersetzung. 2. Eine offene Übersetzung „ist ganz offensichtlich eine Übersetzung“ (2007: 15). Sie „erlaubt es dann den Adressaten der Übersetzung, gewissermaßen in das Original ‚hineinzulauschen’“ (ebenda). Dabei wird die Fülle der möglichen Interpretationen nicht „beschnitten“. Äquivalenz heißt hier „maximaler Erhalt […] des Originals und eine bewusste Analogie des Ensembles der sprachlichen Formen, Gleichheit als Kopie des Originals im neuen Gewand. […] Die ‚Gleichheit’ bezieht sich auf den Text, nicht auf die Reaktion des Adressaten“ (2007: 12).
Definition literarischer Texte und Festlegen der für das LÜ erforderlichen Wissenssysteme Definition: „Literarische Texte sind Zeichensysteme zweiter Ordnung“ (Schulte-Sasse / Werner 1977/1994: 22) Die für das angemessene LÜ erforderlichen Wissenssysteme: 1. linguistisches Basiswissen: translationsrelevante Stilistik 2. poetisches Basiswissen: a) allgemeine Grundlage: die Semiotik als Zeichenlehre, die sich mit dem Bedeutungsaufbau in verschiedenen Zeichensystemen auseinandersetzt b) fachspezifische Theorie: die Literatur- bzw. Textsemiotik Die Standardwerke auf diesem Fachgebiet liefern semiotischstrukturale Ansätze von: Lotman, Jacobson, Propp und Greimas
Lotman: „sekundäre Struktur“ • Unterschied zw. Sach- und Fiktivtexten Funktionalität Ästhetizität Zeichen/Anzeichen nur primäre Strukturen primäre und sekundäre Strukturen • Kunst als sekundäres modellbildendes System: „Sekundäre modellbildende Systeme stellen Strukturen dar, denen eine natürliche Sprache zugrunde liegt. Jedoch bekommt ein solches System im Weiteren eine zusätzliche sekundäre Struktur ideologischen, ethischen, künstlerischen oder eines anderen Typs. Dabei können die Bedeutungen nach den ‚Regeln’ sowohl natürlicher Sprachen als auch anderer semiotischer Systeme entstehen“ (1965: 23; übersetzt aus dem Russ. ).
Jacobson: poetische Funktion der Sprache Konstituenten eines verbalen Funktionen der Sprache Kommunikationsaktes Kontext Mitteilung Sender —————— Empfänger Kontakt Kode referentiell poetisch emotiv —————— konativ phatisch metasprachlich Definition der poetischer Funktion: 1. Einstellung der Botschaft auf sich selbst (alles, was für die Übermittlung der Botschaft nicht notwendig ist) 2. Abweichung von einer „normalen“ Ausgangsform
Textmodell: Mikro- und Makrostrukturen Mikrostrukturen: umfassen Aussagen auf der Ebene eines Einzelsatzes Einheiten: Seme (= kleinste bedeutungstragende Elemente) Makrostrukturen: haben einen satzübergreifenden Charakter und sind auf der Ebene der Textkonstitution anzusiedeln Einheiten: literarische Figuren Primäre Ordnungsmuster: Isotopien (= Wiederholung eines in zwei verschiedenen Wörtern vorkommenden Sems) Sekindäre Ordnungsmuster: Tropen (z. B. Metapher) und grammatische, rhetorische und Lautfiguren Sekundäre Ordnungsmuster: Komplizierungen der Grundaktantenstruktur, Thematisierungen des Erzählers / Retardierungen (z. B. philosophische Erörterungen, „schmückende“ Beschreibungen), sich wiederholende Handlungssegmente (z. B. Parallelhandlungen im Drama, Rahmenerzählungen), Erwartungsbrüche, Umstellung der „Erzählteile“
Aktantenmodell • Aktanten als Funktionstypen der Figuren • Propps Grundaktantenmodell: Auftraggeber (Destinateur), Wunschobjekt, Held (beauftragte und ausführende Instanz), Gegner und Helfer • Greimas Modellerweiterung: zweitgradige aktantielle Konfiguration mit dem Erzähler-Destinateur und dem Leser-Destinataire • weitere Modell-Komplizierungen: dual / kollektiv besetzte Aktanten, Hierarchisierung, Aufsplitterung und Absenz der Aktanten • Die narrative Struktur einfacher erzählerischer Texte: Mangelsituation – Erzählprogramm (Ereignisverlauf) – Endsituation • Ein Beispiel: Ein Drache raubt die Zarentochter, wodurch eine Mangelsituation (Spannung zwischen /Leben/ und /Tod/ bzw. /Kultur/ und /Natur/) entsteht, die den folgenden Ereignisverlauf in Gang setzt: Der Zar (Auftraggeber) beauftragt einen Prinzen (Held), den Drachen (Gegner) zu besiegen und die Zarentochter (Wunschobjekt) zurückzuholen, was der Prinz (evtl. mit Hilfe Anderer, also der Helfer) ausführt.
Linguistisch-semiotisches Analyseverfahren für literarische Ausgangstexte (=LSA) • Dreifache Zielsetzung des Modells: 1. LSA kann als Stütze für den Übersetzer in seiner vorübersetzerischen Analyse des Ausgangstextes, 2. als Maßstab für die Übersetzungskritik bei den bereits erfolgten Übersetzungen 3. und als didaktisches Mittel in der Übersetzerausbildung angewendet werden. • Funktionen des Modells: 1. LSA erlaubt, aufgrund der Textanalyse Richtwerte für eine Übersetzungsnorm für jeden fiktiven Text zu erstellen, 2. es trägt zur Steigerung der poetischen Kompetenz der Übersetzer bei, indem es das Bewusstsein für das Zusammenspiel der primären sprachlichen und der sekundären poetischen Textstrukturen schärft, 3. es bietet Orientierungshilfen für die Überwindung von der Übersetzungsschwierigkeiten, die mit der Spezifik literarischer Texte verbunden sind.
I. Makrostrukturen (Textkonstitution) • 1. Text-Lektüre, Sujeterfassung, Textgliederung mit der Zuordnung bestimmter Handlungsschritte bzw. Sinnabschnitte den entsprechenden Textsegmenten (Teilen / Kapiteln bzw. Akten / Szenen) • 2. Kompositorische (Beschreibung, Bericht oder Erörterung) und architektonische Redeformen (Monolog und Dialog) sowie Gattungsdominante (narrativ oder dramatisch) • 3. Aktantenstruktur (Figuren bzw. Dramenpersonal), evtl. Merkmalhaltigkeit der Figurenrede • 4. Erzähler (Anzahl, Typ, Redeart)
II. Mikrostrukturen (Satzebene / Stil) 1. Phonetik / Klang (Lautmalerei, Rhythmus und Klang, Lautfiguren) 2. Lexik (stilistische Synonyme, Fraseologismen, Lexeme mit historischem Kolorit, Realia bzw. Fremdwörter, diverse Stilniveaus bzw. Sprachvarietäten, Fachwörter bzw. Lexeme fremder funktionaler Stile, Redewendungen mit emotionaler Färbung, Tropen usw. ) 3. Morphologie (z. B. Nominalstil, praesens historicus, Numerus, archaische Formen als Stilmittel, grammatische Figuren) 4. Syntax (Satzumfang, Hypo- oder Parataxe, Ellipsen, reduzierte oder expandierte Satzstruktur, Transposition der Satztypen, Änderungen in der Wortstellung, (a)syndetische Sätze, Prosodik, rhetorische Figuren usw. ) 5. Graphische Stilmittel (Interpunktion, Absatzgliederung, Textdesign, Schriftarten, Orthoepie usw. )
III. Richtwerte für die Übersetzungsnorm 1. Dominante Isotopien (einschl. expliziter Wiederholungen) mit evtl. Verteilung auf Textträger (Aktanten, Sujet, Raum-Zeit, Erzähler) 2. Das Systemhafte in der Textkonstitution (nach dem Prinzip der Wiederholung) 3. Die sekundäre Kodierung (nach dem Prinzip der Normabweichung) 4. Evtl. eine zusätzliche Intention des Autors (Ironie, Parodie, Stilisierung, Verfremdung usw. )
Analyse der S. Zweigs Erzählung „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ I. Makrostrukturen 1. Sujet: • Rahmenerzählung: Ich-Erzähler wird zum Zeugen eines Liebesdramas in einer Pension auf der Riviera, das die Gemüter erhitzt: Mme. Henriette verlässt ihren Mann und zwei Töchter mit einem jüngeren Franzosen, den sie weniger als 24 Stunden kennt • Erzählung von Mrs. C. (67 J. ): Mit 42 Jahren beobachtet sie im Casino von Monte Carlo einen jungen Mann, der sein ganzes Geld beim Spiel verliert, und will ihn vor sicherem Tod retten. Nachdem sie mit ihm eine Nacht verbringt, beschließt sie, ihm zu folgen. Der junge Mann aber spielt – anstatt nach Nizza zurück zu fahren – im Casino wieder, und zwar mit dem Geld, das Mrs. C. ihm gegeben hat, damit er die Fahrkarte kaufen und den Schmuck vom Pfänder erlösen kann, den er seinen Verwandten gestohlen hat. Es kommt zum Bruch, sie reist ab. Viele Jahre später erfährt sie, dass sich der junge Mann erschossen hat. • Textgliederung: keine Kapitelaufteilung
2. KRF: Zusammenspiel von statischer und dynamischer Beschreibung ARF: Monolog dominiert • Gattungsdominante: Erlebnisnovelle („unerhörte Begebenheit“ (Goethe): 24 Stunden verändern total das Leben einer Frau) 3. Aktantenstruktur: Dreiecksbeziehung • Rahmenerzählung: Mme. Henriette – ihr Mann – junger Franzose • Erzählung von Mrs. C. : Mrs. C. – junger Spieler – Spielleidenschaft • angeführter Auszug: Augen von Mrs. C – Hände des Spielers – Kugel (Synekdoche) 4. Erzähler: zwei Ich-Erzähler • 1. Erzähler der Rahmenerzählung • 2. Erzähler (Mrs. C. ) als Teilnehmerin des Geschehens
II. Mikrostrukturen • • • 1. Lexik: emotional gefärbte Rede viele Tiervergleiche zur Veranschaulichung der Leidenschaft, z. B. Hände der Spieler 2. Syntax: der lange Satz als ausschlaggebendes Stilmittel „mit folgender wesentlichen Stilfunktion: der lange Satz stellt auf der Grundlage der oben genannten KRF eine Bildreihe dar, wodurch eine eigentliche Bewegung der Erzählung zustande kommt und die Einheit der Grundstimmung durchklingt“ (Brandes 2006: 78) 3. Morphologie und graphische Stilmittel: [keine bes. Stilmittel]
• • III. Richtwerte für die Übersetzungsnorm: 1. Dominante Isotopien: Zentrale semantische Oppositionen: Leben vs. Tod, Leidenschaft vs. Gesellschaftsnorm, Liebe vs. Hass, Glück vs. Angst „Falke“ (Heyse): Faszination durch die „unerhörten“ Hände (als Anfang der Liebe) • • • 2. Das Systemhafte in der Textkonstitution: 2 Parallelhandlungen (Dreiecksbeziehungen): Die Geschichte von Mrs. C. soll als Beweis für die Richtigkeit der These des 1. Erzählers fungieren (Liebe als Grenzerfahrung, die das vorige geregelte Leben „durchstreicht“) „impressionistische Haltung“: die Fülle von Details und Steigerung dank der Wiederholung der Schlüsselelemente
• • • 3. Die sekundäre Kodierung: Abweichungen von der Rahmenerzählung: die Geschichten von Mme. Henriette und Mrs. C. sind nicht gleichwertig, da sich die Weltsicht von Mrs. C. trotz mehrerer Grenzüberschreitungen nicht ändert (Wertung des Liebesabenteuers im Nachhinein als Schamerlebnis) Erwartungsbrüche / „Wendepunkte“ (Tieck): Mrs. C. verpasst den Zug, wird aber wegen der Spielleidenschaft verlassen („Halluzination“ und Skandal im Casino) Erweiterung des Modells der Rahmenerzählung: Mrs. C. als „Retterin“ und Gerettete (Rückkehr zum Leben nach dem Tod ihres Mannes); drei starke Leidenschaften: Liebe, Spiel und Religion Synekdoche-Prinzip: der Auszug als Modell des ganzen Textes (3. Dreiecksbeziehung) Aktantenstruktur: bei den Händen Aufsplitterung des Aktants („Bruderhände“) 4. Zusätzliche Intention des Autors: [keine]
Experiment 1 • Text: Paralleltexte Dt. / Ru. ohne Anmerkungen am Seitenrand und ohne vorherige Besprechung • Probanden: 10 Studentinnen mit Russisch als Muttersprache; Antworten auf Russisch • Aufgabe (offen): Bitte beurteilen Sie die nachfolgende Übersetzung eines Ausschnitts aus S. Zweigs Erzählung „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ ins Russische. Begründen Sie Ihre Meinung, indem Sie ein paar Kriterien für Ihre Übersetzungskritik (in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit für Sie) stichwortartig und frei formuliert anführen. • Gesamtbeurteilung der Übersetzung: eine gut gelungene bis herausragende Leistung eines gut geschulten und künstlerisch begabten Übersetzers; die Übersetzung ist inhaltlich und stilistisch / expressiv dem Original ziemlich bzw. voll äquivalent
Kriterien für die Übersetzungskritik / Begründung: • ZT liest sich nicht als eine Übersetzung, sondern als ein (originales) Kunstwerk; der Übersetzer hat dank seinem hohen Professionalismus und seiner stark ausgeprägten Persönlichkeit ein neues, eigenständiges Werk geschaffen • ZT zeichnet sich durch Schönheit des Ausdrucks bzw. eindeutig poetische Sprache aus • ZT verstoßt nicht gegen die Normen der Zielsprache • Übersetzer folgt dem Original nicht sklavisch („buchstäblich“), sondern überwindet den Einfluss der Ausgangssprache und findet oft in der Zielsprache genauere Formulierungen • ZT gibt den Inhalt und den Stil des Originals adäquat wieder, entstellt sie nicht • ZT hat auf mich als Rezipientin die gleiche Wirkung gehabt wie der AT
Abweichungen vom Original und ihre evtl. Erklärung: • einige Ausdrücke / Abschnitte sind ausgelassen; die Übersetzung ist viel kürzer, evtl. weil das Russische viel lakonischer als das Deutsche ist (Ökonomie der Sprachmittel) • einige lexikalische Ungenauigkeiten bzw. Fehler, die evtl. auf klärungsbedürftige extralinguistische Details zurückführen sind (d. h. der Übersetzer kennt sich vielleicht mit dem Glücksspiel nicht so gut aus) • einige absichtliche Abweichungen bei der Wortwahl mit dem Zweck, den ZT für die Zielkultur zu adaptieren; dank manchen Abweichungen klingt der ZT besser • einige stilistische Abweichungen vom Original • Manches könnte man in der Zielsprache (stilistisch) besser wiedergeben („das sagt man auf Russisch nicht“, „besser wäre…“) • einige syntaktische Konstruktionen sind nicht mit den gleichwertigen wiedergegeben • einige Veränderungen bei der Wortstellung und den Satzzeichen → die Abweichungen vom Original sind insgesamt eher unbedeutend und durch die „Nicht-Deckungsgleichheit“ der beiden Sprachen bedingt
Experiment 2 • Text: Paralleltexte Dt. / Ru. mit Anmerkungen zum Stil des Originals und zu den Veränderungen in der Übersetzung (Abkürzungen am Seitenrand) sowie vorherige Besprechung des Modells und des Textes im Allg. • Probanden: 17 Student. Innen mit Deutsch als Muttersprache; Antworten auf Deutsch • Aufgabe: Bitte beurteilen Sie die nachfolgende Übersetzung eines Abschnitts aus S. Zweigs Erzählung „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“, indem Sie es mit der ausgearbeiteten Übersetzungsnorm vergleichen. Welche der im Original kursivierten Ausdrücke dürfen in der Übersetzung nicht fehlen und warum? • Gesamtbeurteilung der Übersetzung: man kann diese Übersetzung nicht als voll äquivalent einstufen • Kriterien für die Übersetzungskritik / Begründung: die sekundäre Struktur wird nicht in allen ihren Facetten erhalten
Abweichungen vom Original und ihre evtl. Erklärung: • Missachtung der Aktantenstruktur (Hände als duales Aktant („Zwillinge“), vgl. W 4 a, b) • Missachtung der „Falke“ (vgl. Ist. 8, darunter W 6, z. B. „ungewöhnlich schmal“, „diese außerordentlichen, geradezu einzigen Hände“) • Missachtung der 3. Dreiecksbeziehung (Annäherung der Hände und der Kugel durch Ist. 4 -7, 9 und Wiederholungen 5 und 12, z. B. Hände „mit zart gerundeten perlmutternen Schaufeln“; „sie zitterte, zog sich zurück, rotierte um sich selbst, schwankte, kreiselte und griff schließlich nervös nach einem Jeton“) • Missachtung weiterer Isotopien (10 aus 19 nicht konsequent durchgezogen), Wiederholungen (8 aus 14 fehlen oder weichen ab) und Steigerungen (vgl. z. B. „neben diesen beiden zitternden, atmenden, keuchenden, wartenden, frierenden, schauernden, neben diesen beiden unerhörten Händen“) • Fehlende „Bilder“, z. B. „Blitzgetroffenheit“, „mit einem Katzenbuckel“, „das Marktschreierische Rufen des Croupiers“ • Missachtung der erzähler-zentrierten Rede (vgl. AM und Erz. ) → die Abweichungen sind erheblich und auf den Übersetzer zurückzuführen
Schlussfolgerungen • • • es kann eine Theorie des literarischen Übersetzens für alle Gattungen, Epochen und Nationalliteraturen geben (Nachdichtungen der Texte in Versen ausgenommen) Spezifik literarischer Texte: Zusammenspiel von primären sprachlichen + sekundären poetischen Strukturen empfehlenswert: „offene“ Übersetzung, die das Original „sichtbar“ macht Erstellung einer Übersetzungsnorm: Beibehalten der (einmaligen!) sekundären Struktur des Textes (d. h. aller systemhaften Abweichungen, einschl. expliziter Wiederholungen) Ermittlung der sekundären Struktur durch die Textanalyse auf Mikro- und Makrostrukturenebene (Anwendung von LSA) weitere Voraussetzungen für gutes Gelingen (ZT): sehr gute Sprachkompetenz in beiden Sprachen und Vertrautheit sowie sicherer Umgang mit der Textgattung ‚literarischer / fiktionaler Text’, die es dem Übersetzer möglich macht, einen künstlerischen Text in der ZS zu produzieren
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